Digitale Gewalt gegen Frauen ist kein Zufall
Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt an Frauen sprechen wir mit Prof. Dr. Petra Sußner über Geschlechterdimensionen von Hass im Netz und digitaler Gewalt.

Zur Person
Prof. Dr. Petra Sußner ist seit 2025 Gastprofessorin für Recht mit Schwerpunkt Geschlechterfragen an der HWR Berlin. Ihre Forschung verbindet Legal Gender Studies, Menschenrechte sowie Asyl- und Migrationsrecht. Zuvor forschte und lehrte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitete als Juristin in Wien. In ihrer Lehre betont sie kritische Rechtsreflexion, Diversität und den Transfer juristischen Wissens in die Praxis.
Hass und Gewalt findet zunehmend im digitalen Raum statt - nicht nur gegen Frauen. Aber Hass im Netz hat auch eine Geschlechterdimension. Von welcher Art digitaler Gewalt sind Frauen besonders betroffen?
Digitale Gewalt gegen Frauen ist kein Zufall, sondern hat – wie Sie sagen – Geschlechterdimension. Digitale Gewalt ist ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Besonders betroffen sind Frauen zum Beispiel von sexualisierter Hetze. Beleidigungen, Vergewaltigungsdrohungen oder die Verbreitung intimer Bilder ohne Einwilligung („Revenge Porn“) zielen darauf ab, Frauen zum Schweigen zu bringen – sei es als Aktivistinnen, Journalistinnen oder einfach als Frauen, die sich im Netz äußern. Auch Shitstorms mit Geschlechterdimension gehen in eine vergleichbare Richtung. Frauen erleben häufiger personalisierte Angriffe – der Klassiker sind ungefragte Kommentare zu Körper oder Kleidung. Kritik von Männern wird häufiger sachlich widerlegt.
Digitale Gewalt ist ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Verhältnisse.

Trennung von digitaler und analoger Welt überwinden
Zentral ist außerdem, dass wir die Idee einer digitalen und – davon sauber getrennten – analogen Welt überwinden. „Einfach Mal ein paar Tage offline gehen“ oder „Geräte abschalten und das nicht so ernst nehmen“ mag kurzfristig die psychische Gesundheit stützen. Effektiver Schutz vor Gewalt ist damit nicht garantiert. Das zeigen Phänomene wie das Doxing. Die gezielte Veröffentlichung privater Daten (Adresse, Arbeitsplatz) schlägt die Brücke zu analoger Gewalt, dient der Einschüchterung und trifft Frauen überproportional, weil sie stärker mit physischer Gewalt rechnen müssen.
Schließlich dürfen Strategien von Gaslighting und Manipulation nicht leichtfertig abgetan werden. In Beziehungen wie beruflichen Kontexten wird digitale Kommunikation genutzt, um Realitätswahrnehmungen zu destabilisieren. Dazu treten „Stalking 2.0“ Werkzeuge; also Stalkerware, die gerade in häuslichen Gewaltszenarien zum Beispiel auf Smartphones installiert und zur Überwachung der Betroffenen genutzt wird.
Wer ist besonders gefährdet?
Besonders gefährdet sind Frauen, die sich öffentlich positionieren – etwa Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Influencerinnen – und solche, die intersektional diskriminiert sind. Wir dürfen nicht mehr dem Fehler aufsitzen, Gewalt gegen Frauen eindimensional zu verstehen. Oder gar dem Bias einer normalisierten z.B. weißen oder geschlechterbinären Lebenswirklichkeit aufsitzen. Gerade Schwarze Frauen oder trans Frauen erleben digitale Gewalt besonders intensiv, etwa wenn sie mit rassistischen und (hetero)sexistischen Hasskommentare gleichzeitig konfrontiert sind. Ebenso braucht Resilienz gegenüber digitaler Gewalt ökonomische Ressourcen. Ein Gerichtsverfahren oder eine strafbewehrte Unterlassungserklärung muss man sich erst einmal leisten können. Gerade im Zivilrecht gehen die Kosten rasch in den vierstelligen Bereich. Das ist eine Frage von Klasse, von sozio-ökonomischer Stellung.
Wer sind die Täter? Anonyme Unbekannte oder kommen sie aus dem sozialen Umfeld?
Die Täter(*innen) kommen aus beiden Lagern, und das macht die Bedrohung so perfide.
Oft organisieren sich Täter(*innen) in rechtsextremen, misogynen oder incel („involuntary celibate“)-nahen Netzwerken. Sie nutzen die Anonymität des Netzes, um straflos zu agieren.
Was Bekannte aus dem Umfeld anrichten können, zeigt jüngst die Studie der Universität Tübingen „Femizide in Deutschland“. Solche geschlechterbezogenen Morde passieren zumeist nur für Unbeteiligte „plötzlich“ oder „unerwartet“. Ex-Partner(*innen), Kolleg(*innen) und Familienmitglieder üben davor oft bereits jahrelang Gewalt aus. Dabei nutzen sie auch digitale Tools, um Kontrolle auszuüben – etwa durch Cyberstalking oder die Instrumentalisierung gemeinsamer Kontakte in sozialen Medien. Sehr gut lassen sich solche Dynamiken etwa mit Arbeiten der Berliner Anwältinnen Asha Hedayati und Christina Clemm verstehen. Sie zeigen, wesentliche Stütze digitaler Gewalt sind institutionelle Zusammenhänge. Behörden oder Arbeitgebende, die digitale Gewalt bagatellisieren („Blockieren Sie die Person doch einfach“), tragen zu Vulnerabilität und Vereinzelung der Betroffenen bei.
Wichtig ist, die Trennlinie verläuft nicht zwischen „anonym“ und „bekannt“, sondern zwischen Macht und Ohnmacht. Ob anonym oder nicht – bei digitaler Gewalt geht es auch darum, Frauen aus öffentlichen Räumen zu verdrängen und ihnen damit Sprechmacht und Stimme zu nehmen.
Bei digitaler Gewalt geht es auch darum, Frauen aus öffentlichen Räumen zu verdrängen und ihnen damit Sprechmacht und Stimme zu nehmen.

Wie können Frauen sich erfolgreich wehren?
Was es braucht, ist kollektives Bewusstsein. Das Anerkenntnis, dass digitale Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Es ist eine Gefahr für unsere Demokratie, wenn ein Großteil der Bevölkerung aus dem öffentlichen Raum verschwindet. Digitale Zivilcourage ist ein Stichwort, das in letzter Zeit öfter fällt. Ich denke, wir sind da alle gefordert.
Betroffene brauchen Wissen darüber, wie sie beweissichere Screenshots erstellen, Logfiles oder Zeug*innen sichern. Das ist essenziell, um juristische Schritte zu setzen. Gleichzeitig: Die Verantwortung darf nicht allein bei den Betroffenen liegen. Wir brauchen Strukturen, die Gewalt sichtbar machen und ahnden. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Hate Aid oder der Deutsche Juristinnenbund leisten dazu wichtige Arbeit. Daneben gibt es zahllose lokale Initiativen. Sie unterstützen und sind zugleich selbst gefährdet, Ziel von digitaler Gewalt zu werden. Hier in Berlin denke ich etwa an Camino, das Frauenzentrum EWA oder die Arbeit der Queerbeauftragten, die in den Bezirken Mittel und Aufstockung brauchen.
Lehrforschungsprojekt
Gemeinsam mit meinem Kollegen Mischa Hansel habe ich hier an der HWR das Lehrforschungsprojekt „Resilienz zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenüber digitaler Gewalt“ ins Leben gerufen, gefördert durch die Initiative „Zukunft findet Stadt“. Dazu zählt etwa ein Vertiefungsseminar mit Studierenden des gehobenen Polizeivollzugsdienst, denn: Die Frage, wie polizeiliche Organe auf Anzeigen oder Hilfesuche reagieren – wie kompetent sie in technischen, juristischen, psychologischen Fragen sind – entscheidet maßgeblich über Resilienz der Betroffenen. Im besten Fall führt kompetentes und professionelles Vorgehen sicheren Strukturen, im schlimmsten Fall kommt es Reviktimisierung, Retraumatisierung und eskalierender Gewalt.
Die Studierenden erlebe ich im Seminar – über die Grenzen der Geschlechter hinweg – interessiert, kreativ und engagiert. Das stimmt mich positiv. Es ist zu hoffen, dass hier eine Generation nachkommt, die – wichtige – Arbeit, die aktuell insbesondere spezifisch ausgebildete Kräfte der Polizei und Staatsanwaltschaft Berlin wahrnehmen, stützen und „mainstreamen“, also mit ihrer Kompetenz zu einer breiten Agenda machen.
Was wird gebraucht, um digitaler Gewalt gegen Frauen juristisch wirksam zu begegnen?
Der klassische Schauplatz ist – zuletzt etwa rund um den Fall Yanni Gentsch – das Strafrecht. Hier gibt es zweifelsfrei Lücken, wir müssen nur an die so genannten „Deep Fakes“(Manipulation von medialen Identitäten) oder eben das Filmen intimer, aber bedeckter Körperbereiche im öffentlichen Raum denken. Ob wir diese Probleme über die Auslegung bestehender Normen oder die Erlassung neuer Strafvorschriften lösen, ist letztlich (auch) eine strafrechtspolitische Frage.
Es geht um Prävention durch Machtverschiebung. Gewalt im Netz ist kein Einzelschicksal, sondern Teil eines Systems. Und sie ist kein Kavaliersdelikt.

Mein Appell geht in die Richtung, Lösungen nicht allein ins Strafrecht auszulagern. Es gilt, Plattformen in die Pflicht zu nehmen, den Digital Service Act effizient umzusetzen. Im Idealfall verstehen wir digitale Infrastruktur als öffentliches Gut, das nicht allein in den Händen der so genannten „Tech Bros“ liegt. Betroffene brauchen funktionierende Wege zur Identifikation anonymer Täter(*innen). Im sozialen Nahefeld, etwa bei häuslicher Gewalt, sind wir auf effektive Schutzstrukturen – etwa starke Frauenhäuser – angewiesen.
Bei all dem halte ich es für wichtig, sich nicht in simplen Angeboten von Datenschutz/Meinungsfreiheit versus Gewaltschutz zu verfangen: Technische Tools wie Privacy Einstellungen oder datensichere Messenger Dienste wie Signal reduzieren für Betroffene Angriffsflächen. Meinungsfreiheit ist traditionell als Abwehrrecht gegen den Staat konzipiert. Verdrängt digitale Gewalt jedoch Teile der Bevölkerung – de facto – aus dem Forum öffentlicher Meinungsäußerung und -bildung, stellt sich die Frage: Welche Schutzpflichten hat der Staat hier gegenüber den Gewaltbetroffenen und ihrer Meinungsfreiheit? Sarah Elsuni aus Frankfurt / Main hatte dazu auf einem gemeinsamen Podium zuletzt spannende Impulse.
Kurz, aus juristischer Sicht geht es für mich um weit mehr als Bestrafung. Es geht um Prävention durch Machtverschiebung. Gewalt im Netz ist kein Einzelschicksal, sondern Teil eines Systems. Und sie ist kein „Kavaliersdelikt“.
Prof. Sußner, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Julia Oelkers, Redakteurin für Online Kommunikation an der HWR Berlin
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