04.03.2022 — Pressemitteilung 12/2022Pressemitteilung 12/2022 | 04.03.2022

Forschung

Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche

Wissenschaftler*innen von HWR Berlin und ASH Berlin untersuchten polizeiliches und sozialpädagogisches Handeln gegenüber rechten Jugendlichen Anfang der 1990er Jahre. Christin Jänicke im Interview.

Die ersten Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung waren gekennzeichnet von rassistischen Ausschreitungen und rechten Gewalttaten. Wissenschaftler*innen von HWR Berlin und ASH Berlin haben Sozial- und Polizeiarbeit gegen jugendlichen Rechtsextremismus in den 1990er Jahren untersucht. Foto: Sylke Schumann / HWR Berlin

Zur Person

Christin Jänicke ist Sozialwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt "Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche" (JUPORE) an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Welche Bedeutung hatte jugendlicher Rechtsextremismus in der Nachwendezeit? 

Die Jahre nach dem gesellschaftlichen Umbruch 1989/90 waren geprägt von rassistischen und rechten Ausschreitungen und Gewalttaten. Erinnert sei an Hoyerswerda im Jahr 1991, Rostock-Lichtenhagen 1992, Solingen 1993 sowie die Vielzahl der Todesopfer rechter Gewalt in dieser Zeit. Mancherorts dominierten rechte Jugendkulturen die Straßen und schufen Angsträume für Menschen, die nicht in ihr Weltbild passten. In diesen Jahren entwickelte sich ein spezifisches gesellschaftliches Milieu und eine politische Kultur, die bis heute nachwirkt.

Inwiefern?   

Einige Jugendliche von damals nehmen heute teil an rassistischen Demonstrationen, kandidieren für extrem rechte Parteien oder verüben rechtsterroristische Anschläge und Morde. In den letzten Jahren wurden diese Kontinuitätslinien des (jugendlichen) Rechtsextremismus in die 1990er Jahre mehrfach betont – unter anderem ausgelöst durch Erfahrungsberichte von Betroffenen rechter Gewalt und Beobachtern und Beobachterinnen der Zeit unter dem Schlagwort „Baseballschlägerjahre“ und der Aufarbeitung der Taten des rechtsterroristischen Netzwerkes „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). 

Weshalb und wie gehören Jugend- und Polizeiarbeit zusammen?

Die Auseinandersetzung mit (jugendlichem) Rechtsextremismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in der verschiedene Akteure und Akteurinnen in ihren jeweiligen Bereichen und in der gemeinsamen Aushandlung gefragt sind. Jugendarbeit und Polizei sind dabei zwei Akteure, die unmittelbar mit rechten Jugendlichen agieren – mit unterschiedlichen Prämissen und Zuständigkeiten: Während es in der Jugendarbeit buchstäblich darum ging, die Jugendlichen – trotz oder wegen ihres gewalttätigen Auftretens – „von der Straße zu holen“ und durch Angebote der Sozialen Arbeit von der Ausübung von Straf- und Gewalttaten abzubringen, begann das Handeln der Polizei oftmals erst nach der Ausübung von Gewalt- und Straftaten. 

Welche Ansätze wurden damals in der Sozial- und Polizeiarbeit mit jugendlichen Rechtsextremisten und -extremistinnen verfolgt?

Insbesondere in den ersten Jahren der 1990er lag der Fokus polizeilichen Handelns auf Repression gegenüber (jugendlichen) Straftätern und Straftäterinnen. Erst später bekamen präventive Ansätze auch in der Polizei mehr Gewicht. Auffallend ist, dass es in den 1990er Jahren kaum zur Zusammenarbeit zwischen den Professionen kommt, obwohl diese teils mit der gleichen Klientel arbeiteten. Auch in der Wissenschaft ist die interdisziplinäre Betrachtung des jugendlichen Rechtsextremismus in den 1990er Jahren aus der Perspektive der Sozialen Arbeit und der Polizei wenig berücksichtigt. 

Gab es regionale Schwerpunkte?

Ja. Wir konzentrierten uns bei unseren Analysen auf zwei regionale „Hotspots“ in Berlin und Brandenburg, nämlich den Stadtbezirk Berlin-Lichtenberg und die ehemalige DDR-Bezirksstadt Cottbus. Beide sind exemplarisch für Regionen, die über viele Jahre hinweg durch eine hohe Anzahl an rechten Übergriffen auffielen, und dies auch heute noch tun. Betroffene, Journalisten und Journalistinnen, Opferberatungen und andere zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen haben hier wichtige Aufklärungsarbeit geleistet und das Thema in die Öffentlichkeit gebracht. Unsere Forschung will diese nun wissenschaftlich fundieren und Anstöße für die Praxis der Sozialen Arbeit, der Polizei und der Zivilgesellschaft geben. 

Bei meinen Recherchen zum Thema bin ich auf den Begriff „akzeptierende Jugendarbeit" gestoßen. Welches Konzept steht dahinter?

Das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit entstand Ende der 1980er Jahre in Bremen. Es leitete sich ab aus Praxiserfahrungen mit rechten Jugendlichen in der offenen Jugendarbeit. Der akzeptierende Ansatz war zuvor in der Arbeit mit Drogenabhängigen erprobt worden und fand den Weg nach Berlin und Brandenburg verstärkt durch die Einführung des „Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt“, welches von 1992 bis 1996 als jugendpolitische Antwort auf die rechten Gewalttaten in den ostdeutschen Bundesländern geschaffen wurde. Kern des Konzeptes war es, durch niedrigschwellige Angebote – insbesondere in Jugendclubs – an die Jugendlichen heranzutreten und sie von Gewalttaten abzubringen. 

Weshalb wurde (oder wird) dieser Ansatz so kontrovers diskutiert?

Forscher*innen und Praktiker*innen kritisierten zum einen die einseitige Fokussierung auf rechte, meist männliche Jugendliche und die fehlenden Angebote für Betroffene, Marginalisierte und nicht-rechte Jugendliche. Zum anderen wurde eine unzureichende Konzeptualisierung und die Übertragung eines Konzeptes, das in einer westdeutschen Großstadt entwickelt wurde, auf ostdeutsche Flächenländer problematisiert. Wir haben festgestellt, dass die ganze Kontroverse um das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit bis dato kaum aufgearbeitet wurde. Es gibt Stimmen, die sich positiv auf die Arbeit beziehen, andere Personen konstatieren, dass der Begriff „verbrannt“ sei. Wie sich der Umgang heute mit dem Konzept gestaltet, werden wir in Vorträgen und Workshops mit externen Referenten und Referentinnen diskutieren, wenn wir unsere Forschungsergebnisse auf unserer Tagung am 24. März 2022 in Berlin erstmals öffentlich vorstellen.

Damals war die Polizei verunsichert, wie sie mit Rechtsradikalismus unter Jugendlichen umgehen sollte? Was hat sich seit Anfang der 1990er Jahre geändert?

Die Polizei in den ostdeutschen Ländern musste sich zunächst neu strukturieren und sich mit der bundesdeutschen Gesetzgebung vertraut machen. Die Brüche und Abwertung der Berufsbiografie durch den gesellschaftlichen Umbruch verunsicherten die Polizist*innen in dieser Zeit. Der aufkommende Rechtsextremismus war zwar in Ansätzen schon in der DDR zu beobachten, die massive Gewalt und Dominanz rechter Subkultur kannten diese bisher jedoch nicht. Der Polizei – und auch der Politik – fehlte es an Analysen und treffenden Begriffen: Sie wussten schlicht nicht, wer ihnen gegenüberstand, noch wie denen zu begegnen sei. Sowohl Ost- als auch Westpolizei unterschätzen systematisch die Gefahr. Spätestens nach Rostock-Lichtenhagen findet jedoch ein Umdenken statt und gezielte Maßnahmen – von Ermittlungsgruppen bis Fortbildungen – werden nach und nach etabliert. Seither hat sich die Analyse des Rechtsextremismus und die Erfassung der rechten Gewalttaten zwar verbessert, es bleibt aber hier noch einiges zu tun. 

Welche Rolle nehmen genderreflektierende und rassismuskritische Perspektiven heute ein?

In der Rekonstruktion des damaligen polizeilichen und sozialpädagogischen Handelns wird deutlich, dass männliche, jugendliche (Gewalt-)Täter im Fokus der Praxis als auch der Forschung standen. Die Perspektive der Betroffenen spielte dabei keine Rolle beziehungsweise orientiert sich an den Bedarfen der Täter*innen. Deutlich wird, dass ein dezidiert geschlechterreflektierender Ansatz und eine rassismuskritische Analyse in der Polizei und der Sozialen Arbeit in den 1990er Jahren fehlen. Frauen und Mädchen werden als Akteure und Akteurinnen übersehen und unterschätzt. Dabei ist für eine Analyse des Rechtsextremismus die Betrachtung von Misogynie, Sexismus und Antifeminismus als Teil rechter Ideologie unablässig. Auch gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse müssen für das Verständnis von Rassismus, Rechtsextremismus beziehungsweise rechter Gewalt stärker berücksichtigt werden. Bis heute werden in Praxis und Forschung diese Perspektiven noch unzureichend einbezogen.

Frau Jänicke, ich danke Ihnen für das Gespräch. 

Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin.

Tagung des interdisziplinären Forschungsprojektes JUPORE

Am 24. März 2022 von 10.00 bis 16.30 Uhr findet eine öffentliche Abschlusstagung zum Forschungsprojekt „JUPORE – Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren" an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin statt. Die Teilnahme ist kostenlos. Medienvertreter*innen sind herzlich willkommen. Um Anmeldung bis zum 10. März 2022 per E-Mail an jupore(at)ash-berlin.eu wird gebeten.

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin)
Die Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin ist mit über 12 000 Studierenden eine der großen Hochschulen für angewandte Wissenschaften – mit ausgeprägtem Praxisbezug, intensiver und vielfältiger Forschung, hohen Qualitätsstandards sowie einer starken internationalen Ausrichtung. Das Studiengangsportfolio umfasst Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts- und Sicherheitsmanagement sowie Ingenieurwissenschaften in über 60 Studiengängen auf Bachelor-, Master- und MBA-Ebene. Die HWR Berlin unterhält 195 aktive Partnerschaften mit Universitäten auf allen Kontinenten und ist Mitglied im Hochschulverbund „UAS7 – Alliance for Excellence“. Als eine von Deutschlands führenden Hochschulen bei der internationalen Ausrichtung von BWL-Bachelorstudiengängen und im Dualen Studium belegt die HWR Berlin Spitzenplätze in deutschlandweiten Rankings und nimmt auch im Masterbereich vordere Plätze ein. Die HWR Berlin ist einer der bedeutendsten und erfolgreichen Hochschulanbieter im akademischen Weiterbildungsbereich und Gründungshochschule. Die HWR Berlin unterstützt die Initiative der Hochschulrektorenkonferenz „Weltoffene Hochschulen – Gegen Fremdenfeindlichkeit“.

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