22.05.2023 — Pressemitteilung 23/2023Pressemitteilung 23/2023 | 22.05.2023

MVZ

Medizin für das deutsche Gesundheitswesen

Es braucht Strukturänderungen, sagen Expertinnen und Experten. Ein Ansatz zur besseren ambulanten Versorgung sind Medizinische Versorgungszentren. Ein Interview mit Prof. Dr. Beate Jochimsen.

Foto: Oana Popa-Costea

Zur Person

Prof. Dr. Beate Jochimsen ist Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft, und Studiengangsleiterin des Bachelorstudiengangs Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin). Die Expertin für Gesundheitsökonomie, Fiskalföderalismus und öffentliche Haushalte war bis Januar 2023 Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege.

Seit 20 Jahren gibt es Medizinische Versorgungszentren (MVZ) in Deutschland. Inwiefern sind sie Teil der Lösung für die Probleme des Gesundheitswesens?

MVZ sind zunächst einmal eine zusätzliche Möglichkeit, sich in der ambulanten Versorgung zu engagieren. Mit diesem neuen Typ von Leistungserbringern ist das erstmals auch für Personen möglich, die keine approbierten Ärzte sind. Die Versorgungsstruktur ist damit vielfältiger geworden.

Was ist der Unterschied zu inhabergeführten Einzelpraxen?

Es gibt zwei wesentliche Unterschiede. Zum einen bestehen MVZ immer aus mehreren Ärzten, bei Einzelpraxen kann es zusätzlich zum Praxisinhaber auch angestellte Ärzte geben. Das muss aber nicht so sein. Zum zweiten sind nur bei rund der Hälfte der MVZ Ärzte die Inhaber. Die andere Hälfte befindet sich überwiegend im Besitz von Krankenhäusern, die wiederum alle möglichen Inhaber haben können, beispielsweise gewinnorientierte Unternehmen, Kirchen, gemeinnützige Organisationen, Kommunen, Pensionsfonds oder andere private Investoren. 

Welche Herausforderungen gibt es in der ambulanten medizinischen Versorgung?

Die größten Herausforderungen liegen in der Aufrechterhaltung der Versorgung im ländlichen Raum und der unzureichenden Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen. Bei der Versorgung im ländlichen Raum, die übrigens schon in den Außenbezirken Berlins beginnt, ist die demographische Entwicklung in doppelter Hinsicht eine Herausforderung. Zum einen werden die Patienten immer älter und damit morbider, zum anderen treten mittelfristig weniger junge Ärzte in die Versorgung. Zudem haben junge Ärzte oft neue Vorstellungen zur Work-Life-Balance.

Woran liegt es, dass die Digitalisierung im Gesundheitsbereich im internationalen Vergleich zurückhängt?

Verzögerungen bei der Umsetzung gab und gibt es aufgrund technischer, organisatorischer, psychologischer und rechtlicher Probleme. Insbesondere das in Deutschland oftmals sehr rigide Verständnis von Datenschutz erweist sich oft als Hemmschuh.

Als Mitglied des Sachverständigenrats stellten Sie eine strukturelle Abschottung zwischen Kliniken und Praxen fest. Können MVZ als Scharnier wirken und als Motor?

Ein Ausbau der Digitalisierung beispielsweise, indem endlich die elektronische Patientenakte flächendeckend zum Einsatz kommt, ist sicherlich eine wichtige Voraussetzung für eine verstärkte Sektor-übergreifende Kooperation. Genauso wichtig ist jedoch, dass gleiche medizinische Leistungen auch gleich vergütet werden – und zwar unabhängig davon, ob sie in einer Arztpraxis oder in einem Krankenhaus erbracht werden.

Wie kann das praktisch umgesetzt werden?

Teilweise können die Probleme durch die Politik des „einen Tresens“ gelöst werden. Patienten werden dabei beim Betreten eines Krankenhauses „am Tresen“ gefragt, was ihr Anliegen ist und dann entweder in den stationären Bereich auf der einen Seite geschickt oder in den ambulanten auf der anderen Seite. Letzterer wird dann als MVZ, meist in der Trägerschaft des Krankenhauses, geführt. Hier wirken MVZ schon jetzt als Scharnier.

Weshalb sind MVZ eine Erfolgsgeschichte mit Gegenwind?

Wie anfangs schon erwähnt, können sich in MVZ erstmals auch Personen in der ambulanten Versorgung engagieren, die keine approbierten Ärzte sind. Dazu zählen auch private Investoren, Pensionsfonds oder Verwaltungen großer Vermögen, die erst ein Krankenhaus kaufen und dann damit MVZ gründen. Die Gegner von sogenannten „Investoren-MVZ“ argumentieren, dass diese ja nur auf Gewinn aus sind, während die Ärzte nur das Patientenwohl im Sinn haben.

Ist diese Annahme nicht berechtigt?

Diese Argumentation verkennt aus meiner Sicht zwei Aspekte: Erstens behandeln in jedem MVZ Ärzte die Patienten, unabhängig davon, wem das MVZ gehört. Und diese Ärzte sind weisungsunabhängig von jedem Eigentümer. Zweitens unterscheide ich als Ökonomin nicht zwischen „gutem“ Kapital und „schlechtem“. In jeder Praxis, ob nun Einzelpraxis, Gemeinschaftspraxis oder MVZ, wird natürlich erst einmal investiert. Und jeder Investor, also auch der Arzt, der die Einzelpraxis oder das MVZ betreibt, möchte natürlich, dass sich seine Investition am Ende auszahlt. Statt auf die vermeintlich verschiedenen Motive und Vorgehensweisen verschiedener Investoren zu schauen, sollte meines Erachtens die Qualität der Versorgung für die Patienten im Mittelpunkt stehen. Gibt es da Unterschiede zwischen Einzelpraxen und MVZ oder zwischen MVZ, die Ärzten gehören oder Pensionsfonds?

Was spricht nach Ihrer Meinung aus gesundheitsökonomischer Sicht für oder gegen MVZ?

An oberster Stelle der Gesundheitsökonomie steht das Patientenwohl. Der wichtigste Vorteil für Patienten ist sicher eine bessere Diagnostik und Behandlung von komplexen Krankheitsbildern, wenn in MVZ verschiedene Fachärzte zusammenarbeiten. So können auch die therapeutischen Maßnahmen besser aufeinander abgestimmt werden. Prophylaxe, Diagnose, Behandlung und Therapie erfolgen dann zwar nicht aus einer Hand, aber immerhin unter einem Dach.

Wie stellt sich das aus Perspektive der Ärzte dar?

Junge Ärzte wollen zunehmend keine Einzelpraxen mehr führen. Die Arbeit in einem MVZ ermöglicht flexiblere Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle und geht nicht mit den finanziellen Risiken einer Praxisgründung einher. Auch örtlich ist man flexibler. Und zufriedene Ärzte kommen ja mittelbar auch dem Patientenwohl zugute.

Wie wirkt sich das auf die Kosten aus?

Als Gesundheitsökonomin habe ich die Gesamtkosten des Systems im Blick. Vielfach ermöglichen MVZ eine effizientere betriebswirtschaftliche Organisation und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten als Einzelpraxen. Auch das kommt mittelbar den Patienten zugute.

Also alles unproblematisch und in jeder Hinsicht besser für Patienten und Gesundheitssystem?

Eine potentielle Gefahr kann sich ergeben, wenn es keine klare Abschottung zwischen medizinischer Leitung und unternehmerischen Interessen gibt. An sich ist diese bereits jetzt gesetzlich vorgeschrieben (Stichwort: Weisungsunabhängigkeit), aber natürlich sollte genau beobachtet werden, ob dies in der Praxis auch eingehalten wird. Gleiches gilt für die sogenannte Rosinenpickerei, also die Konzentration auf besonders lukrative Fälle. Im stationären Bereich haben wir mit diesen Herausforderungen bereits seit Jahrzehnten zu tun. Dort gibt es ja schon lange private Krankenhäuser mit angestellten Ärzten. Aus diesen Erfahrungen sollte man für MVZ lernen.

Wo liegt das Problem?

In einzelnen Fachdisziplinen wie der Labormedizin und in der Radiologie ist aufzupassen, dass sich keine Monopole bilden. Diese Bereiche sind so kapitalintensiv, dass dort bereits der Großteil der ambulanten Versorgung in MVZ erfolgt. Wenn diese sich in größerem Umfang in einer Hand befinden, muss sichergestellt werden, dass es in diesem Bereich trotzdem noch Wettbewerb gibt und die Patienten noch Wahlmöglichkeiten haben. 

Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, um möglichen potenzielle Nachteile für die Patientenversorgung und das Gesundheitssystem durch MVZ entgegenzuwirken?

Wie schon erwähnt sollte das Patientenwohl im Mittelpunkt stehen und das heißt, der Fokus sollte auf der Qualität der Behandlung nicht auf der Organisation oder Inhaberstruktur der Einrichtung liegen. Hier ist die Datenlage leider sehr dürftig. Im Moment ist keine seriöse, empirisch belegbare Aussage möglich, ob es Qualitätsunterschiede bei der Versorgung zwischen Einzelpraxen, Gemeinschaftspraxen oder MVZ gibt, geschweige denn, ob es diese Unterschiede zwischen MVZ in Arzt- oder Investorenhand gibt. Auch hier könnte die Digitalisierung einen wichtigen Beitrag leisten. Begrüßenswert wäre es auch, wenn für die Patienten ersichtlich wäre, wem die ambulante Einrichtung, in der sie sich behandeln lassen, eigentlich gehört. Hier könnte ein Transparenzregister Abhilfe schaffen. 

Sind MVZ aus Ihrer Sicht die Versorgungs- und Unternehmensform der Zukunft?

MVZ sind notwendig, um eine flächendeckende, ambulante Gesundheitsversorgung in Anbetracht der demographischen Entwicklung, der steigenden Kapitalintensität in machen Fachdisziplinen und den veränderten Vorstellungen von Work-Life-Balance junger Mediziner Rechnung zu tragen. Sie sollten nach wie vor eine, nicht die einzige, Möglichkeit der ambulanten Versorgung sein.

Frau Prof. Jochimsen, ich danke Ihnen für das Gespräch.


Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin).


Veranstaltungshinweis

Am 24. Mai 2023 wird Prof. Dr. Beate Jochimsen bei der Veranstaltung des Bundesverbands der Betreiber medizinischer Versorgungszentren e. V. (BBMV) unter dem Titel „Erfolgsgeschichte trotz Gegenwind – 20 Jahre MVZ“ in Berlin mit anderen Experten und Expertinnen auf dem Podium diskutieren zum Thema „Umbruch der ambulanten Versorgung – neue Herausforderungen und neue Versorgungsformen“.

https://www.bbmv.de/veranstaltungen/

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin)
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