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Debatte über Defizite im europäischen Insolvenzrecht

Zwei Insolvenzverwaltungen in zwei EU-Mitgliedstaaten, aber nur eine Schuldnerin und eine Insolvenzmasse – kann das gutgehen? Im Rahmen des Studium Generale der HWR Berlin diskutierten namhafte Experten über die Defizite des europäischen Insolvenzrechts am Beispiel des Insolvenzfalls AirBerlin und NIKI Luftfahrt.

15.06.2018

Zwei Insolvenzverwaltungen in zwei EU-Mitgliedstaaten, aber nur eine Schuldnerin und eine Insolvenzmasse – kann das gutgehen? Im Rahmen des Studium Generale der HWR Berlin diskutierten namhafte Experten über die Defizite des europäischen Insolvenzrechts am Beispiel des Insolvenzfalls AirBerlin und NIKI Luftfahrt.

„Insolvenzrecht ist nicht trocken, sondern gibt kreativen Juristinnen und Juristen ein spannendes Betätigungsfeld.“ Mit diesen Worten eröffnete Vizepräsidentin Prof. Dr. Susanne Meyer eine anregende Podiumsdiskussion an der HWR Berlin. Thema: die Pleite von AirBerlin und ihres Tochterunternehmens NIKI Luftfahrt GmbH und die damit verbundenen Defizite im europäischen Insolvenzrecht. Im gut besuchten Saal der alten Bibliothek am Campus Schöneberg erhielten die Besucherinnen und Besucher – darunter viele Studierende – einen detaillierten Einblick in die juristischen Unklarheiten, die sich aus der intensiven rechtlichen Auseinandersetzung ergeben. Prof. Dr. Matthias Nicht, Dozent für Bürgerliches Recht, Vollstreckungs- und Insolvenzrecht an der HWR Berlin, moderierte die Runde und brachte das Problem auf den Punkt: „Allein der Umstand, dass wir heute in dieser Zusammensetzung hier sitzen, zeigt doch, dass es nicht gelungen ist, eine einheitliche europäische Regelung im Insolvenzrecht zu schaffen.“

Worum geht es im Kern? Im Fokus des Verfahrens steht die Frage, wie das Center of Main Interest (COMI) in der Europäischen Insolvenzverordnung auszulegen ist. Mit COMI ist der Mittelpunkt der hauptsächlichen wirtschaftlichen Interessen eines insolventen Unternehmens gemeint. Dieser Mittelpunkt ist ausschlaggebend dafür, in welchem Land ein grenzüberschreitendes Insolvenzverfahren abgewickelt werden muss.

Im Dezember 2017 plädierte das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg für ein deutsches Verfahren und setzte einen vorläufigen Insolvenzverwalter ein. Denn der COMI der NIKI Luftfahrt als Tochter von AirBerlin liege in der deutschen Hauptstadt, so das Argument. Doch das Fluggastrechte-Portal Fairplane, welches als Gläubiger die offenen Forderungen tausender NIKI-Kunden aus Österreich vertritt, legte Beschwerde ein. Die Interessen seiner Kunden sah es in Österreich besser vertreten. Anfang 2018 entschied das Landgericht Berlin, dass das Konkursverfahren von Österreich aus geführt werden müsse und hob damit die Entscheidung des Amtsgerichts auf. Begründung: Nach den Vorschriften der Europäischen Insolvenzverordnung liegen der Satzungssitz der Schuldnerin und damit der Mittelpunkt ihrer Interessen in Österreich. Gleichzeitig wurde in Berlin ein untergeordnetes Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet.

Amtsgericht Charlottenburg verteidigt sich
Martin Horstkotte, zuständiger Richter am Amtsgericht Charlottenburg, verteidigte im Rahmen der Diskussion seinen Beschluss: „Ich würde die Entscheidung erneut so treffen“, betonte er – und fügte hinzu, in seiner 40-jährigen Juristenlaufbahn sei der vorliegende Fall der interessanteste, an dem er beteiligt gewesen sei. Die Positionierung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sieht er kritisch. Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen objektive und für Dritte erkennbare Umstände vorliegen, die belegen, dass die Hauptverwaltung nicht am Ort des satzungsmäßigen Sitzes liegt. Mit dem Versuch des EuGH, „einem normativen Begriff einen deskriptiven Inhalt zu geben“, habe er große Schwierigkeiten. Und forderte: „Der Gerichtshof sollte seine Rechtsprechung ändern.“

Auf dem Podium saßen auch Vertreter der beiden Streitparteien. Der Hamburger Rechtsanwalt Stefan Denkhaus, der die Interessen der Schuldnerin vertritt, sieht den Schwerpunkt der gesellschaftlichen Tätigkeit seiner Mandantin klar in Deutschland: „Im Wesentlichen war die NIKI nur noch eine österreichische Marke, aber der Großteil ihres tatsächlichen Kerngeschäfts lief von Berlin aus.“ Fairplane-Vertreter Oliver Sietz bekräftigte indes die Interessen des Fahrgastrechte-Portals und der österreichischen NIKI-Kunden und betonte, dass die Rolle von Gläubigern bei Insolvenzen in den letzten Jahren stark zugenommen habe.

„Kooperation auf europäischer Ebene funktioniert“
Für mehr Gelassenheit und den Blick aufs große Ganze sprach sich Prof. Dr. Christoph Paulus aus. Der Experte für Bürgerliches Recht, Zivilprozess- und Insolvenzrecht an der Humboldt-Universität rückte die langfristige Perspektive in den Fokus: „Wir haben in den letzten Jahrzehnten einen irrsinnigen Quantensprung im internationalen Insolvenzrecht gemacht“, gab er zu bedenken. Der Kern der Debatte gehe nämlich an der Realität vorbei. Zwar sei „Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen“ ein relativ unscharfer Begriff, doch unklare Verhältnisse wie im diskutierten Beispiel lägen verhältnismäßig selten vor. „Die goldene Lösung ist zwar noch nicht gefunden, aber häufig funktioniert die Kooperation auf europäischer Ebene.“